EuGH zum Nachholen von SE-Beteiligungsverfahren

EuGH lehnt eine nachträgliche Verhandlungspflicht grundsätzlich ab, wenn eine SE ohne Beteiligungsverfahren gegründet wurde.

    Fachautoren:

    • Artur Baron

    • Dr. Dirk Jannott

    • Kai Roters

    Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens (Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) v. 17. Mai 2022 – 1 ABR 37/20) ist die lang erwartete Entscheidung des EuGH vom 16. Mai 2024 (C-706/22) ergangen. Der EuGH spricht sich dabei grundsätzlich gegen eine Pflicht zum Nachholen des sog. Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens aus, wenn die SE zunächst durch arbeitnehmerlose Gesellschaften ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahrens gegründet wurde und erst anschließend die Kontrolle über Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern* übernimmt. Damit folgen die EuGH-Richter den Schlussanträgen des Generalanwalts.

    Vorlagefrage: Pflicht zum Nachholen eines SE-Beteiligungsverfahrens?

    Eine englische Limited und eine deutsche GmbH gründeten eine SE mit Sitz im Vereinigten Königreich (O Holding SE) im Wege der sog. Holding-Gründung gemäß Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2157/2001 (SE-VO). Die Limited und die GmbH verfügten zum Gründungszeitpunkt weder über Arbeitnehmer noch über Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern. Das nach Art. 12 Abs. 2 SE-VO als Eintragungsvoraussetzung der SE vorgesehene Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren konnte daher im Rahmen der SE-Gründung nicht durchgeführt werden.

    Unmittelbar nach ihrer Eintragung übernahm die O Holding SE die Geschäftsanteile an der drittelmitbestimmten O Holding GmbH mit Sitz in Deutschland. Die O Holding GmbH beschäftigte zu diesem Zeitpunkt selbst rund 800 Arbeitnehmer und verfügte darüber hinaus über Tochtergesellschaften mit weiteren Arbeitnehmern in verschiedenen Mitgliedstaaten.

    Wenige Monate später wurde die O Holding GmbH in eine KG formgewechselt, wobei eine SE die Komplementär-Stellung in der KG übernahm (SE & Co. KG). Die O Holding SE wurde damit zur alleinigen Kommanditistin der KG und war außerdem die Alleinaktionärin der Komplementär-SE.

    Einen Monat später verlegte die O Holding SE ihren Sitz aus dem Vereinigten Königreich nach Deutschland. Der Konzernbetriebsrat strebte daraufhin ein arbeitsgerichtliches Verfahren mit dem Ziel an, die Leitung der O Holding SE zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens in der O Holding SE zu verurteilen.

    Nach Abweisung durch die Instanzgerichte legte schließlich das BAG in diesem Verfahren dem EuGH mehrere Fragen zur Auslegung von Art. 12 Abs. 2 SE-VO sowie von einschlägigen Regelungen der Richtlinie 2001/86/EG (SE-RL) vor. Die vom EuGH zu entscheidende Kernfrage war dabei, ob

    eine Pflicht zum Nachholen des Beteiligungsverfahrens besteht, wenn die SE zunächst durch arbeitnehmerlose Gesellschaften ohne Durchführung des Beteiligungsverfahrens gegründet wird und erst anschließend die Kontrolle über Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern übernimmt.

    Im Vorlagebeschluss vertrat das BAG die Position, die Vorschriften der SE-VO und der SE-RL zum Erfordernis der Durchführung des Beteiligungsverfahrens gingen davon aus, dass die an der SE-Gründung beteiligten Gesellschaften – oder zumindest ihre Tochtergesellschaften – eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben und Arbeitnehmer beschäftigen. Der Fall einer Gründung durch Gesellschaften, die weder über Arbeitnehmer noch über Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern verfügen, sei dabei nicht im Blick gewesen. In einem solchen Fall könne jedoch der Zweck der SE-RL (Schutz und Wahrung von Arbeitnehmerrechten) das Nachholen des Beteiligungsverfahrens erfordern, wenn die SE nach ihrer Gründung die Kontrolle über Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern erwerbe. Dabei könne ein Nachholen auch im Hinblick auf die Vorschrift der SE-RL zum Verfahrensmissbrauch (Art. 11 SE-RL) geboten sein.

    EuGH: Nachholen von SE-Beteiligungsverfahren nicht schon deswegen notwendig, weil eine SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in einem oder mehreren Mitgliedstaaten geworden ist

    Der EuGH hat die vom BAG vorgelegte Kernfrage verneint. Folgende Grundaussagen des EuGH sind dabei hervorzuheben:

    • Die Eintragung einer SE ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahrens sei möglich, wenn weder die beteiligten Gründungsgesellschaften noch ihre Tochtergesellschaften zum Zeitpunkt der SE-Gründung Arbeitnehmer beschäftigen. Art. 12 Abs. 2 SE-VO stehe dem nicht entgegen. Dies entspricht heute schon der absolut herrschenden Meinung in der Literatur, der Rechtsprechung und der Praxis in Deutschland.
    • Ein Recht auf nachträgliche Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer lasse sich aus dem Wortlaut der Regelungen der SE-VO und der SE-RL nicht ableiten, wenn ein besonderes Verhandlungsgremium (BVG) nicht schon zu Anfang (d.h. im Rahmen der Gründung der SE) eingesetzt wurde. 
    • Eine solches Recht ergebe sich insbesondere auch nicht aus dem 18. Erwägungsgrund der SE-RL, der die Sicherung erworbener Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer (Vorher-Nachher-Prinzip) auch in Fällen struktureller Änderungen der SE verlangt.
    • Das Fehlen eines solchen Rechts auf ein Nachholen des Beteiligungsverfahrens werde auch durch die Gesetzeshistorie gestützt. Ein seinerzeit vorgeschlagener Erwägungsgrund 7a sei in die SE-RL nicht übernommen worden, der ausdrücklich neue Verhandlungen zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Fall einer erheblichen Umstrukturierung nach der Gründung einer SE vorgesehen hätte. 
    • Deshalb sei das Fehlen eines Rechts auf Nachholen des Beteiligungsverfahrens in der SE-VO und der SE-RL nicht ein Versehen, sondern vielmehr eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die sich aus dem Kompromiss über das Vorher-Nachher-Prinzip ergebe. 
    • Art. 11 SE-RL (Verfahrensmissbrauch) sehe (zumindest für die vorgelegte Fallkonstellation) keine Verpflichtung zum Nachholen des Beteiligungsverfahrens vor. Allerdings belasse Art. 11 SE-RL den Mitgliedstaaten einen Wertungsspielraum in Bezug auf die Auswahl der zur Missbrauchsverhinderung zu ergreifenden Maßnahmen. Raum für die in der Vorlagefrage des BAG zum Ausdruck kommende Wertung, aus dem Missbrauchstatbestand des § 43 SEBG könne sich eine Pflicht zum Nachholen des Verfahrens heute schon ergeben, sieht der EuGH damit nicht. Diese Rechtsfolge sieht die Regelung gerade nicht vor.
    • Ein Missbrauch im Sinne des Art. 11 SE-RL setze nach der Entscheidung des EuGH zudem – das hat das Gericht erfreulicherweise klargestellt – zum einen objektiv voraus, dass trotz formaler Einhaltung der Unionsregelungen das Ziel dieser Regelungen nicht erreicht wurde, und zum anderen subjektiv die Absicht, sich einen aus der Unionsregelung resultierenden Vorteil zu verschaffen, indem die Voraussetzungen für seine Erlangung künstlich geschaffen werden.

    Die aufgeführten Aussagen des EuGH beziehen sich dabei naturgemäß nur auf den konkret vorgelegten Fall der Holding-Gründung. Aus unserer Sicht sind diese Aussagen jedoch auch auf die anderen SE-Gründungsarten grundsätzlich übertragbar.

    Denn im Ergebnis lautet die Antwort des EuGH auf die erste Vorlagefrage des BAG wie folgt:

    Art. 12 Abs. 2 der VerordnungNr. 2157/2001 in Verbindung mit den Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86 [ist dahin auszulegen], dass er, wenn eine Holding-SE, die von beteiligten Gesellschaften gegründet wird, die keine Arbeitnehmerbeschäftigen und nicht über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften verfügen, ohne vorherige Durchführung von Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer eingetragen wird, die spätere Aufnahme solcher Verhandlungen nicht deswegen vorschreibt, weil diese SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in einem oder mehreren Mitgliedstaaten geworden ist.

    Die übrigen Vorlagefragen des BAG (u.a. zur zeitlichen Begrenzung der Pflicht zum Nachholen des Beteiligungsverfahrens) waren damit nicht mehr relevant, da sie unter der Bedingung der Bejahung der Frage über die Nachholpflicht standen.

    Missbrauch als entscheidendes Kriterium: Arbeitnehmern dürfen keine Beteiligungsrechte entzogen oder vorenthalten werden

    Damit wird künftig in der Praxis bei „arbeitnehmerlosen“ SE-Gründungen, die ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahren erfolgt sind, die Frage nach einem Missbrauch zentral sein. 

    Art. 11 SE-RL regelt, dass die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Unionsrecht geeignete Maßnahmen treffen sollen, um zu verhindern, dass eine SE dazu missbraucht wird, Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten. 

    Bisher fehlt im deutschen SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) eine Regelung zum Nachholen des Beteiligungsverfahrens, wenn das Verfahren im Rahmen der SE-Gründung mangels Arbeitnehmern unterbleibt. Die instanzgerichtliche Rechtsprechung und Literatur leitet eine Pflicht zur Nachholung eines solchen teilweise aus einer Analogie zu § 18 Abs. 3 SEBG ab, der eine Neuverhandlungspflicht in Fällen struktureller Änderungen zum Gegenstand hat (vgl. z. B. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 30. März 2009 – I-3 Wx 248/08), und zwar nicht (nur) in Missbrauchsfällen, sondern ganz allgemein, sobald die arbeitnehmerlos gegründete SE über (genügend) Arbeitnehmer verfügt. Vor dem Hintergrund der neuen EuGH-Rechtsprechung kann dieser Ansicht – jedenfalls in dieser Pauschalität – nicht mehr gefolgt werden. Auch der deutsche Gesetzgeber könnte ein Nachholen des Beteiligungsverfahrens nicht pauschal vorsehen; dies wäre unionsrechtswidrig.

    Zur Verhinderung von Missbrauchskonstellationen könnte aber eine Nachholpflicht gesetzlich vorgesehen werden. Unter welchen (engen) Voraussetzungen ein Missbrauch anzunehmen wäre, hat der EuGH in seiner Entscheidung abstrakt vorskizziert.

    Offene Fragen im Hinblick auf Beteiligungsverfahren bei Aktivierung einer Vorrats-SE

    Offen bleibt, ob die dargestellten Grundsätze des EuGH auch auf Vorrats-SE zu übertragen sind. Hier kommt nämlich die Besonderheit hinzu, dass im Zuge der Aktivierung der Vorrats-SE verschiedene aktienrechtliche Gründungsvorschriften erneut zur Anwendung kommen. Wenn die SE schon im Zuge der Aktivierung mit Arbeitnehmern ausgestattet wird oder in die SE Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern eingebracht werden, könnte argumentiert werden, dass der Fall wie eine SE-Neugründung zu behandeln und deshalb das Beteiligungsverfahren grundsätzlich nachzuholen sei. Auf einen Missbrauch käme es dann nicht an. 

    Die besseren Argumente sprechen jedoch dafür, auch die Vorrats-SE gemäß den vom EuGH aufgestellten Grundsätzen zu behandeln. Das bedeutet, dass ein Nachholen des Beteiligungsverfahrens auch für die Vorrats-SE grundsätzlich nicht verlangt werden kann. Zur Vermeidung von Missbrauchsfällen könnte aber eine Nachholpflicht auch für die Vorrats-SE gesetzlich geregelt werden. Allein die Tatsache des Erwerbs einer Vorrats-SE kann aber nach den Maßgaben des EuGH noch nicht als Indiz für einen Missbrauch gewertet werden; es müssten weitere objektive und subjektive Umstände hinzukommen.

    Die Behandlung von Vorrats-SE liegt derzeit in einem anderen Verfahren dem BAG zur Entscheidung vor. Die hier erörterte EuGH-Entscheidung wird auf dieses Verfahren sicherlich ausstrahlen.

    Vorsorgliches Nachholen des Beteiligungsverfahrens bleibt möglich

    In der aktuellen Rechtslage stellt sich die Frage, wie mit einschlägigen Fällen arbeitnehmerloser SE-Gründungen mangels klarer gesetzlicher Vorgaben umzugehen ist. 

    Zumindest in den Fällen, in denen sonst der Entzug von bereits bestehenden Arbeitnehmerrechten unmittelbar durch den Einsatz der arbeitnehmerlos gegründeten SE im Raum steht, empfiehlt sich – zumindest zur aktuellen Gesetzes- und Rechtsprechungslage – ein vorsorgliches Nachholen des Beteiligungsverfahrens in analoger Anwendung der entsprechenden, für die Gründung relevanten Vorschriften des SEBG. 

    * Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

    kununu